Liviana Tung leitete die PR-Abteilung eines internationalen Getränkeherstellers, der hauptsächlich für einen stark zuckerhaltigen Softdrink bekannt war, mit dem Menschen weltweit Werte wie Zivilisation, Fortschritt, Coolness und ewige Jugend in Verbindung brachten. Seit einigen Jahren jedoch kämpfte genau dieser Softdrink mit einem gewaltigen Imageproblem, das sich in Form von unzähligen Beschwerdebriefen auf Livianas Schreibtisch türmte. Soeben ließ Liviana wieder einen Wäschekorb voller Beschwerdebriefe von ihrer persönlichen Assistentin Consuela hinaustragen. Sie schaute Consuela gedankenverloren zu, wie sie den schweren Korb auf Bauchhöhe stemmte und dann schnaufend hinauswatschelte. Und da kam Liviana Tung der Geistesblitz, auf den sie seit Wochen gewartet hatte. Sofort ließ sie Götz Noldin zu sich kommen, der für sie die Presseaussendungen schrieb.
„Ich weiß jetzt, wie wir den Alten loswerden“, eröffnete sie ihm mit nur mühsam unterdrücktem Stolz.
„Welchen Alten?“, tat Götz verwirrt. In Wahrheit hatte er schon länger gehofft, in eine Intrige gegen Big Mike, den Leiter der Personalabteilung, verwickelt zu werden. Doch Liviana enttäuschte ihn.
„Na, den Weihnachtsmann. Er ist untragbar geworden. Zumindest für uns und unser Flaggschiff.“ Damit meinte sie den bereits erwähnten Softdrink.
„Ach so. Wirklich?“
„Selbstverständlich. Eigentlich war ich davon ausgegangen, dass Sie heimlich meine Post lesen, aber auch, wenn Sie das nicht getan haben, könnte Ihnen aufgefallen sein, dass die gesellschaftliche Akzeptanz gegenüber Fettleibigen in den letzten Jahren gegen Null gesunken ist. Keiner findet Übergewichtige mehr gemütlich und lustig. Sie gelten als faul, verfressen und herzinfarktgefährdet.“
„Ja. Aber was hat das mit unserem Flaggschiff zu tun?“
„Wir hängen am alten Fettsack wie Leonardo DiCaprio an der Titanic. Und Sie wissen, wie die Geschichte für ihn ausgegangen ist.“
„Hat er keinen Oscar bekommen?“
„Eben nicht. Und deswegen muss er weg.“
„Leonardo DiCaprio?“
„Der Weihnachtsmann. Seit Jahren ist er unser Werbeträger, er ziert Dosen, Flaschen, LKW, die Leute brauchen ihn nur anzusehen, und dann denken sie schon an uns.“
„Das ist doch wunderbar.“
„Eben nicht. Weil sie seit einiger Zeit eben denken: ‚Der arme fette Mann. Der hat sicher Diabetes. Und dann trinkt er auch noch immer dieses Zuckerzeug.’ Wir müssen uns daher von ihm trennen.“
„Aber Sie können doch nicht einfach den Weihnachtsmann abschaffen.“
„Natürlich kann ich das. Ich meine: wir. Können wir das. Immerhin haben wir ihn auch erst zu dem gemacht, was er jetzt ist. Also schaffen wir ihn jetzt auch einfach wieder ab. Konkret: Sie. Sie werden sich darum kümmern.“
„Aber der Weihnachtsmann ist eine Ikone. Er gehört zu unserem kulturellen Erbe.“
„Das hat man schon über viele PR-Gags gesagt. Herkules, Hedonismus, Hexerei – alles mal tolle Ideen, um einen Lifestyle zu rechtfertigen. Und, was ist draus geworden?“
„Hedonismus gibt’s immer noch.“
„Ach, hören Sie doch auf mit Ihren Ausreden.“
„Na schön, dann wollen Sie Weihnachten also auch noch gleich mit abschaffen, oder?“
„Wie kommen Sie auf so eine absurde Idee? Weihnachten ist eine unserer wichtigsten Verkaufszeiten. Weihnachten wird nicht angerührt. Nur der Weihnachtsmann muss weg. Das kann doch nicht so schwer sein.“
„Dann setzen wir also in Zukunft auf das Christkind.“
„Quatsch. Geht doch nicht. Dann bombardieren sie uns noch mit Unicef-Karten gegen Kinderarbeit.“
„Und wer soll dann die Geschenke bringen?“
„Na, ganz einfach: das Weihnachtskänguruh.“
„Bitte, wer?“
„Das Weihnachtskänguruh. Ich hab’s mir schon überlegt.“ Hatte sie nicht. Dazu war zwischen ihrem Geistesblitz beim Anblick von Consuela und dem Gespräch mit Götz Noldin einfach nicht genug Zeit gewesen. Aber Liviana hatte zu improvisieren gelernt.
„Das Weihnachtskänguruh bringt in seinem Beutel die Geschenke für alle Kinder auf der Welt. In Sieben-Meilen-Sprüngen hüpft es über die Dächer, und damit es bei Nebel den Weg findet, hat es eine leuchtend rote Nase wie Rudolph, das Rentier.“
„Und Sie glauben im Ernst, dass sich das weltweit durchsetzen lässt?“
„Natürlich. Dafür werden wir schon sorgen. Konkret: Sie. Sie denken sich jetzt eine Kampagne aus.“