Das Ehepaar Böhler hatte seit mehreren Jahren keinen Urlaub mehr gemeinsam verbracht. Herrn Böhler war die Kulturbeflissenheit seiner Frau immer auf die Nerven gegangen, Frau Böhler hinwiederum war mit der Nachtschwärmerei ihres Gatten nicht zurecht gekommen. Außerdem hatte sie ein Faible für mediterrane Länder, während er sich zu kühleren Gefilden hingezogen fühlte. Deswegen war es für Herrn Böhler überraschend gekommen, als seine Frau ihm einen „Kurztrip“ vorgeschlagen hatte. Wo hatte sie nur schon das Wort her? „Kurztrip“. Und überhaupt, wie kam sie dazu, ihre Freundin Cordula, mit der sie in den letzten Jahren immer verreist war, im Stich zu lassen? „Ich will endlich ein normales Eheleben. Mit gemeinsamem Urlaub.“ Zu einer stichhaltigeren Begründung hatte sich Frau Böhler nicht hergegeben, und so schritten sie jetzt über den gepflasterten Rathausplatz der kleinen Stadt Wenckenheim, die sich laut Reiseführer „romantisch zwischen imposante Berge“ schmiegte, laut Herrn Böhler „wie eine Fliege von den klotzigen Felshaufen zerquetscht“ wurde. Gerade waren sie noch in einem schattigen Biergarten gewesen, in welchem Herr Böhler sich auf die bevorstehende „Kultureintrichterung“ vorbereitete. Nun hielten sie Ausschau nach der angekündigten Führung. „Treffpunkt Annenbrunnen, 15h“, las Frau Böhler zum dritten oder vierten Mal vor, und zum dritten oder vierten Mal setzte sie ein gehässiges „15h, Uwe!“ nach. Herr Böhler war es leid, „die beginnen doch nie so pünktlich“ zu antworten und sagte stattdessen: „Da vorne, das Mädchen, das wird’s sein.“ Tatsächlich stand unter dem Brunnen eine einsame junge Frau und schien nach etwas oder jemandem Ausschau zu halten. „Glaubst du?“, erwiderte Frau Böhler. „Immerhin ist es fast halb vier.“ „Wir können ja mal fragen“, meinte Herr Böhler und trat an die junge Frau heran. „Entschuldigung, machen Sie hier die Stadtführung?“ Die junge Frau sah Herrn Böhler mit nachdenklichen Augen an, als müsse sie seine Frage tief in sich hineinsenken und dort in eine geheimnisvolle Sprache übersetzen. Dann kam plötzlich Leben in ihr bis dahin fast maskenhaft regloses Gesicht, sie hob die Augenbrauen, lächelte. „Stadtführung, aber natürlich“, sagte sie. „Wo sind denn die anderen Leute?“, raunte Frau Böhler ihrem Mann zu. Die junge Frau räusperte sich etwas verlegen. „Sie müssen wissen, es ist das erste Mal, dass ich das mache.“ „Aha“, sagte Herr Böhler und versuchte, verständnisvoll dreinzuschauen. Ihm gefiel „das Mädchen“, merkte Frau Böhler etwas verärgert. Dabei war „das Mädchen“ gar nicht mehr so jung, wie es auf den ersten Blick aussah. „Kommen denn keine anderen Leute zur Führung?“, fragte Frau Böhler die junge Frau mit etwas misstrauischen Tonfall. „Wie Sie sehen, sind Sie die Einzigen“, lachte diese. „Aber das macht Ihnen doch nichts aus?“ „Gewiss nicht“, sagte Herr Böhler und zog seine Brieftasche. „Was macht das dann?“ „Oh bitte!“ Die junge Frau hob abwehrend die Hände. „Sie bezahlen erst hinterher! Und jetzt möchte ich mich noch kurz vorstellen, ich heiße Hedwig Steiner und werde Ihnen nun versuchen unser schönes Wenckenheim ein bisschen näherbringen. Dazu ein paar Eckdaten zur Stadtgeschichte. Die ältesten Ausgrabungsfunde belegen, dass zumindest die heutige Altstadt bereits im ersten vorchristlichen Jahrtausend besiedelt war. Urkundlich wird Wenckenheim erstmals 1322 in einer Schenkung von Herzog Trautmar dem Nährer an seinen Neffen Huldrich den Bodenlosen erwähnt. Dort finden wir die Bezeichnung „weyler zum wancken heym“, was auf die erdbebengefährdete Lage der Stadt verweist. Im Mittelalter steigt Wenckenheim unter Huldrich dem Zweiten, vor allem aber unter dem dritten und bedeutungsvollsten Huldrich, auch bekannt als Huldrich dem Huldreichen, zu einem wichtigen Handelszentrum auf. Erst mit den sogenannten „Beutelkriegen“, genauer gesagt mit den Niederlagen in diesen Kriegen, verliert Wenckenheim seine hervorragende Position an den Erzfeind Schonzberg. Noch heute steht Wenckenheim im Schatten seines nördlichen Nachbarn. Umso mehr freut es mich, dass Sie sich für Ihren Urlaub doch für Wenckenheim und nicht für Schonzberg entschieden haben.“ Herr Böhler lachte geschmeichelt. Er war Hedwig schon hoffnungslos verfallen, Frau Böhler sah es mit Erbitterung. „Was waren denn das für ‚Beutelkriege’? Der Name ist mir völlig unbekannt.“ Hedwig überhörte Frau Böhlers schneidenden Tonfall. „Nun, die ‚Beutelkriege’ sind in der Tat nicht so bekannt wie der zugleich stattfindende Dreißigjährige Krieg, da sie regional doch sehr beschränkt waren – zum Glück. Sie wurden mit äußerster Grausamkeit geführt. Der sogenannte ‚Beutel’ war übrigens kein Beutel im heutigen Sinne, sondern die dialektale Bezeichnung für den, nun ja, Hoden. Es handelte sich in der Tat um einen, heute würde man sagen, Emanzipationskrieg. Plündernde Frauengruppen aus Schonzberg machten die Wälder um Wenckenheim und Umgebung unsicher, und wenn ihnen ein Mann in die Quere kam, ‚beutelten’ sie ihn. Und Sie können sich ja vorstellen, was das bedeutete.“ Hedwig sah das Ehepaar Böhler bedeutungsvoll an. Herr Böhler erschauerte. Dann holte Hedwig tief Luft. „Wie auch immer. Schonzberg stieg zur ersten matriarchal geführten Stadt der Neuzeit auf, Wenckenheim jedoch litt noch jahrelang an den Folgen der blutigen Beutelkriege. Indirekt sind diese Folgen übrigens bis heute zu spüren: Wenckenheim ist die einzige Stadt Europas, in der das Frauenwahlrecht noch immer nicht eingeführt ist.“ „Ist nicht wahr!“, rief Frau Böhler empört aus. „Doch“, nickte Hedwig betrübt. „Frauen dürfen auch nur sehr unverdächtige Berufe ausüben. In den Reiseführern finden Sie davon freilich kein Wort, da die Stadt um ihren Ruf fürchtet. Ich allerdings darf Ihnen diese Wahrheit nicht verschweigen, selbst wenn das damit meine erste und letzte Führung gewesen sein sollte. Wenn Sie mir jetzt bitte folgen wollen.“ Damit führte sie das Ehepaar über den Rathausplatz. „Sie hat gar nichts über den Brunnen gesagt“, zischelte Frau Böhler. „Der wird schon nicht so wichtig sein“, beschwichtigte Herr Böhler „ich meine, angesichts dieser erschütternden Tatsachen“. Die junge Frau stellte sich unter einem etwas unscheinbaren blaugestrichenen Haus mit weißen Fensterläden auf. „Hier sehen Sie das Geburtshaus des wichtigsten Wenckenheimer Bürgers, Froduald von Stuppenwerft, 1538 – 1594.“ „Nie gehört, den Kerl. Und so alt sieht das Gebäude gar nicht aus. Eher nach Fin de Siécle.“ „Jetzt red nicht dauernd dazwischen. Du glaubst wohl, nur weil du schon so viele Besichtigungen mitgemacht hast, kannst du die Führungen jetzt schon selber leiten, wie?“ Frau Böhler warf trotzig den Kopf in den Nacken. Dann hörte sie zu, wie Hedwig Froduald von Stuppenwerfts Leben in groben Zügen umriss. Und da staunte nun auch sie, die weitgereiste Frau Böhler, nicht schlecht: Von Stuppenwerft hatte bereits im 16. Jahrhundert erste Experimente mit primitiven Elektrogeneratoren gemacht. „Leider war die Zeit für ihn noch nicht reif. So ist unser ‚Leonardo von Wenckenheim’, wie er auch genannt wird, verarmt und gebrochen gestorben und bald in Vergessenheit geraten. Erst in jüngster Zeit hat ihn die Geschichtsschreibung wiederentdeckt, vor allem durch die sensationellen Aufzeichnungen aus seinen „Blassblauen Tagebüchern“, die erst kürzlich entziffert werden konnten. Von Stuppenwerft war sich der militärstrategischen Brisanz seiner Forschungen bewusst und benutzte einen sehr komplexen Code. Wenn man die Tagebücher arglos durchblätterte, wirkten Stuppenwerfts Niederschriften wie die stümperhaften Akt-Skizzen eines unbegabten Amateurs. Erst spät erkannte man, dass die Winkel der Kniebiegungen der sitzenden Akte sowie die Rückenlinien der liegenden gefinkelte Kürzel seiner Konstruktionspläne für diverse Maschinen sind. Noch sind nicht alle Tagebücher komplett entschlüsselt, doch weist alles darauf hin, dass von Stuppenwerft selbst das Genie eines Albert Einstein in den Schatten stellte.“ Hedwig schwieg ehrfurchtsvoll, und auch die Böhlers waren beeindruckt. Bereitwillig folgten sie Hedwig zur nächsten Sehenswürdigkeit, einer kleinen grünen Tafel mit der Zahl ‚15’, die an einem Haus prangte. „Was aussieht wie ein gewöhnliches Straßennummernschild, ist tatsächlich Teil der Mahnmal-Installation des zeitgenössischen Künstlers Hilmo Korrer. Sie werden noch an vielen Häusern ähnliche Tafeln sehen. Korrer verweist mit seinen beliebig nummerierten Schildern auf die stetige Anonymisierung in der heutigen Gesellschaft hin, wo jeder nur noch eine Nummer ist. Lassen Sie sich also nicht vom banalen Aussehen dieser Tafeln täuschen, es handelt sich um einen sublimen Ausdruck moderner Gesellschaftskritik.“ Nun war auch Frau Böhler gewonnen. Von moderner Kunst und zeitgenössischer Kritik hielt sie sehr viel und hatte auch schon selbst in kleinen Gemeinsschaftsausstellungen mit ihren Freundinnen Cordula und Leidlieb die Beachtung des lokalen Pfarrnachrichtenblattes gefunden. Sie taxierte die Tafel mit dem Kennerblick einer Insiderin. „Gutes Handwerk“, bemerkte sie fachmännisch, „radikal reduziert auf die bestürzende Nacktheit der Tatsachen“. So etwas Ähnliches hatte das Pfarrblatt über Leidliebs Sammlung zerknüllter Kaugummipapiere geschrieben, und Frau Böhler fand, es passte auch in diesem Zusammenhang. Hedwig zumindest war höchst zufrieden. „Man trifft nur selten Menschen, die gleich einen Zugang zu dieser doch sehr anspruchsvollen Form der Kunst finden.“ „Ich denke, das ist Ihre erste Führung?“, warf Herr Böhler schüchtern ein. Hedwig nickte. „Ja, als Stadtführerin. Aber ich habe lange im Museum für Moderne Kunst in Rötschs gearbeitet. Das kennen Sie wahrscheinlich. Es hat eine der auserlesensten Fieler-Sammlungen des Landes. Vor allem Fielers Amerikanische Jahre und die weltbekannten Gefrierspinat-Blöcke sind nahezu lückenlos anzutreffen, nur einige wenige Exemplare finden sich in New York und Moskau.“ Frau Böhler nickte. Die Stadtführung wurde ihr zunehmend sympathischer. Was man nicht noch alles lernen konnte! Als sie sich nach zweieinhalb Stunden von Hedwig verabschiedeten (Herr Köhler hatte es sich nicht nehmen lassen, ein besonders großzügiges Trinkgeld zu geben) und etwas erschöpft von so viel Neuem in ihr Hotel zurückkehrten, sagte Frau Böhler zu ihrem Mann: „Ich habe ja keine Ahnung, wo dieses Rötschs überhaupt liegt, aber von diesem Fieler muss ich mir unbedingt etwas besorgen. Wir kaufen uns einen schönen Bildband, der kommt gleich neben den Beuys. Und vielleicht finden wir auch etwas über die Armenhaus-Architektur? Das war ja hochinteressant! Und die Kirche war ja auch ein-ma-lig. Ich hatte von der Lothringer Barock-Schule noch nie gehört, aber diese assymetrischen Krypto-Verkröpfungen waren sen-sa-tio-nell. Die sieht man nicht einmal, wenn man nicht genau hinschaut. Ich muss mal bei uns im Dom überprüfen, ob wir nicht auch so was haben.“ Herr Böhler schmunzelte zufrieden vor sich hin. Wenn seine Frau schon soweit war, dass sie ‚ein-ma-lig’ und ‚sen-sa-tio-nell’ sagte, dann war der Tag ein Erfolg gewesen. Und auch für ihn war er nicht schlecht verlaufen. Hedwig hatte ihm unbemerkt ihre Telefonnummer zugesteckt.
Während also das Ehepaar Böhler zufrieden und beschwingt dem opulenten Abendessen im „Berstenden Bottich“ entgegenging, legte Hedwig säuberlich die Geldscheine, die sie von Herrn Böhler erhalten hatte, in ihre Börse. Ihr Blick war wieder nach innen gerichtet und versunken wie am Nachmittag, ihr Gesicht verschlossen und ausdruckslos wie das einer Puppe. Sie schreckte hoch, als ein Passant sie ansprach: „Verzeihen Sie, wo geht es hier bitte zur Schutzengel-Apotheke?“ „Keine Ahnung“, erwiderte sie. „Ich bin nicht von hier.“