Mein dritter Erzählband
Mein dritter Erzählband
Vom grossen Ganzen
Informationen: “Vom großen Ganzen” - den Titel habe ich nicht ohne Ironie gewählt. Wer wollte es schon unternehmen, das “große Ganze” auf Papier zu bringen und der Welt “die” Wahrheit über die Menschheit, das Leben und überhaupt zu präsentieren? Und doch gibt es immer wieder Ratgeber, (pseudo)philosophische Schriften oder Offenbarungen selbsternannter Gurus, die genau das für sich beanspruchen. Tatsächlich spielt auch in der Titelgeschichte meines Erzählbandes die Suche nach einer universellen Formel eine gewisse Rolle, und tatsächlich findet die Hauptfigur eine Definition für ihr “großes Ganzes” - das alles aber doch mit einem gewissen Augenzwinkern …
Allerdings: Die Texte sind keineswegs nur satirisch gemeint. Ganz im Gegenteil: gerade in der Absurdität offenbart sich der Ernst der Lage. Alle Erzählungen, die in diesem Buch versammelt sind, handeln von Grenzerfahrungen, und manchmal befinden sich die Protagonisten in extremen Situationen ohne Ausweg. Mir war es wichtig, nichts zu beschönigen. Dazu passend das Titelbild mit der abblätternden Farbe: Dieses Buch will keine glänzende Fassade herzeigen, es behauptet auch nicht, drängende Fragen des Lebens zu beantworten. Vielmehr habe ich Geschichten geschrieben, die von verschiedenen Perspektiven an das, was die Welt “im Innersten zusammenhält” herangehen, und je nach Perspektive ist die Antwort eine andere. Die Hauptfiguren sind Kinder, Jugendliche, Erwachsene, alte Leute, sie leben unter verschiedenen Umständen, sammeln unterschiedliche Erfahrungen. Jede Figur für sich ist ein Steinchen, doch das Mosaik ist erst vollkommen, wenn der Leser sein eigenes “großes Ganzes” hinzufügt.
Klappentext: Der neue Erzählband von Selma Mahlknecht versammelt Geschichten, die an der schmalen Grenze zwischen Heiterkeit und Ernst, Traum und Albtraum, Leben und Tod angesiedelt sind. Den Figuren ihrer Erzählungen widerfährt Seltsames: Sie geraten in die gespenstische Zwischenwelt am Rande des Daseins, die im Alltag gern ausgeblendet wird. Die Selbstverständlichkeit unserer Existenz wird ebenso hinterfragt wie die Suche nach dem Sinn des Lebens. Ein Erzählband, der nachdenklich macht, aber auch mutig.
„Jedenfalls, also der fragt den „Meister“ und so weiter, und was eben jetzt das große Ganze ist, und dann sagt der Meister, also der sagt etwas total genial Oberschlaues, so ähnlich wie „Frag den Vogel der Dämmerung, wenn die Zikade die Sonne begräbt“ oder eigentlich überhaupt nicht so, ganz anders, aber das hat mir damals, wie ich die Geschichte gehört habe, schon gefallen, was der gesagt hat, der Meister, das weiß ich noch genau. Und da sitz ich jetzt also da und denk nach, was der jetzt wirklich gesagt hat, und plötzlich ist das total wichtig, das Allerwichtigste, und ich denke, wenn mir das jetzt einfällt, was der da gesagt hat, dann ist der Tag gerettet.“
Leseprobe aus der Titelerzählung:
Zum Juha ist es nicht weit, und damit es sich mehr nach Abenteuer anfühlt, mache ich einen Umweg über die Neubauten. Hier wohnen die Leute in Etagen gestapelt, langsam gehe ich an den erleuchteten Fassaden vorbei. Eine vierstöckige Torte Lebensmüdigkeit steht da vor mir, wenn ich in die Fenster schaue, wo der Fernseher läuft. Ob diese Wände so dünn sind, dass der Himmel durchscheinen kann? Wohnen im Bienenkorb, schlafen in der Honigwabe, hinauskriechen aus dem Eingangsspalt und Blumen suchen, ich stelle mir das furchtbar vor und romantisch, und ein bisschen bin ich neidisch. Unser Haus ist anders, zu wuchtig und geerdet, um Flügel zu schenken, nur mit dem schweren Schritt eines Ackergauls kann man es betreten oder verlassen. Wie lange wird das noch dauern, bis ich gelernt habe, fortzugehen ohne zurückzukehren? Ich werfe mir den Rucksack über die Schultern. Er ist leicht, fast zu leicht für einen Aufbruch nach Nimmerland. Aber so ist der Sommer, so heiß und lockend wie die atemlos geflüsterten Versprechen liebestoller Kerle im Mondlicht. Wenn man drauf reinfällt, hat man drei Tage Herzklopfen, trägt zu tief ausgeschnittene Blusen und fängt sich einen Pilz ein.
Mir fällt auf, dass es für die Laternen noch zu hell ist. Wie unpassend das aussieht, dieser tintenblaue Himmel mit den grellgelben Leuchtkugeln drin. Man kann vor lauter Licht gar nichts sehen, keinen einzigen Stern. Dabei wollte ich schon längst ein Sternbild erfinden, ganz für mich, das über mich wachen sollte. Aber wenn ich jetzt um die Ecke biege, kann ich schon den Lärm vom Juha hören. Wer braucht da noch Sterne.
Um diese Zeit sind natürlich nur die Babys da und die, die ohnehin nie weg gehen. Mit den Babys rede ich nicht, die sind 13 und haben gerade Nirvana entdeckt und machen erste Versuche mit Push-ups und Haarschaum. Da sind mir die Alteingesessenen lieber, die nur noch ans Kiffen glauben. Bartok zum Beispiel ist ständig zu und kann stundenlang Gespräche führen, an die er sich später nicht mehr erinnert. Ich mag Bartok, und wir hatten sogar einmal etwas miteinander. Wer weiß, irgendwann erzähl ich ihm vielleicht davon. Sein bester Kumpel ist Mike der Musiker. Ich habe ihn noch nie ein Instrument spielen sehen und ich glaube auch nicht, dass er singen kann, aber er schleppt ständig ein zerfleddertes Heftchen mit sich rum, in das er auf den ersten Seiten noch irgendwelche Matheaufgaben geschrieben hat und das er mittlerweile nur noch für seine Songskizzen benutzt. Ein paar davon hat er mir schon gezeigt, und ich muss zugeben, dass sie wirklich interessant aussehen.
Sweet Lemon Biscuit zum Beispiel oder Wounded Wolf Howling sind starke Titel. Besonders aber gefällt mir die Stelle in „Rotten Piece Of Old-Fashioned Heaven”, wo es heißt „I’m just an embittered whore that can’t take it anymore, so tell me what we’re living for in this emotion-megastore, where only the rich are poor”. Mike der Musiker hat das für seine Freundin Della geschrieben. Della hat eine etwas schrille Stimme, das könnte also tatsächlich ein Hit werden.
Ich finde Bartok und Mike beim Billard. Sie haben offenbar ein neues Spiel erfunden, aber sie kennen die Regeln selbst nicht und kichern nur herum.
„He, ihr“, sage ich.
Bartok zielt mit der weißen Kugel auf mich und lacht.
„He, Süßa.“
Er weiß, dass ich es nicht mag, wenn mich jemand „Süßa“ nennt, aber er weiß auch, dass er sich das leisten kann.
„Hast du was für mich?“, frag ich Bartok.
„Kannst ein Tütchen haben, wenn du willst.“
„Nö, keine Lust. Lieber was zu trinken.“
„Hm, weiß auch nicht. Della hat heute ein paar Flaschen Dunkel gebracht. Müssten noch in der Küche stehen.“
„In der Küche? Oh, Mann! Dann sind sie garantiert schon weg. Wer ist denn so blöd?“
Bartok zuckt die Schultern. Das ist das Nervige an Kiffern, denen ist alles egal.
In der Küche ist denn auch fast nix mehr zu holen, haben alles schon die Babys klar gemacht. Natürlich. Wenn’s schon mal was gratis gibt. Im Kühlschrank finde ich noch eine halbe Flasche Cola, der Whiskey dazu ist schon alle, was soll’s. Ich setze mich auf den Tisch, trinke aus der Flasche. Draußen fährt ein Auto vorbei, die Bässe dröhnen überlaut und man kann kaum einzelne Töne im Krach ausmachen. Das müssen diese neuen Typen sein, die Horny Half-Baked Assholes oder wie sie heißen, auf die alle Vollidioten im Dorf neuerdings abfahren. Hoffentlich kommen sie nicht hierher. Aber ich höre, wie der Lärm leiser wird. Gefahr gebannt.
Ich frage mich, wie es kommt, dass ich jedes Mal ins Juha gehe, obwohl ich schon vorher weiß, dass da sowieso nichts läuft. Woher habe ich nur diese unerschütterliche Hoffnung, dass es diesmal, dieses eine Mal, anders sein könnte? Es ist nie anders, und ich bin immer enttäuscht. Wenn ich ehrlich zu mir bin, muss ich zugeben, dass auch im Eden noch nie was gelaufen ist. Und eigentlich bin ich gar nicht so der Party-Typ. Wäre ich zwar gern, bin ich aber überhaupt nicht. Die Frau mit dem bauchfreien Top und dem Nabelpiercing, die ganz allein auf der Tanzfläche alle mit ihren katzenhaften Bewegungen hypnotisiert. Wie man das so von Teenie-Filmen kennt eben. Wäre ich wirklich wahnsinnig gern. Manchmal übe ich heimlich in meinem Zimmer. Dann bin ich ganz entfesselt und wild wie eine Zottelhexe auf dem Blocksberg. Ich mag die Vorstellung. Mit dem Besen durch die Luft reiten, schreiend und nackt. Um das große Feuer tanzen bis zur Ekstase, mich verknäueln mit allen, die da sind, in einer großen berauschenden Liebesumarmung. Im Eden tanze ich immer ganz brav, Schritt rechts, Schritt links, drehen drehen drehen. Gela und Meggi schimpfen dann immer, wie langweilig das sei. Die sollten mal durch mein Fenster sehen, wenn ich wirklich tanze, da würden die aber Augen machen! Aber irgendwie bin ich noch nie an die richtigen Drogen gekommen, um mich das auch vor allen Leuten zu trauen.
Es ist schon zehn. Wo bleiben sie? Draußen wird es langsam voller. Hier in der Küche merkt man wenig. Nur vorher hat mal ein Baby reingeschaut, ob noch Bier da ist. „Verzieh dich“, hab ich es angemotzt, jetzt ist es schön ruhig.
Ich mag das Alleinsein. Eigentlich könnte ich auch bei mir zu Hause in der Küche sitzen, aber das wäre nicht dasselbe. Dort bin ich doch immer irgendwie in der Familie. Jeden Augenblick könnte meine Mutter hereinkommen und alles kaputtmachen. Oder Hetti schaut auf einen Sprung vorbei oder Lutz ruft an, wo Hetti ist, als ob wir noch für die zuständig wären. Nein, zu Hause geht Alleinsein nicht.
erschienen im Februar 2012