Helena
Helena
mein zweiter Roman, erschienen 2010
Klappentext: Vergötterung, Flucht, Liebe, Entführung, Vergewaltigung. „Bin ich noch Helena?“, fragt sich die schöne Prinzessin aus Sparta, nachdem sie von Paris verschleppt und geschändet wurde. Schönheit verspricht in Mahlknechts Neuerzählung der griechischen Sage kein Glück. Um dem Werben der Freier zu entkommen, entflieht Helena mit Theseus nach Aphidnai. Doch nach diesem freiwilligen Akt muss sie sich Zwängen unterwerfen, die von Männern bestimmt werden: Von den Lakoniern wieder nach Hause geholt, wählt sie unter den Werbern Menelaos, den Prinzen von Mykene, weil eine Entscheidung getroffen werden muss. Während dessen Abwesenheit wird sie von Paris entführt, doch wie schon bei Euripides kommt Helena nie in Troja an, sondern landet an einen hohen Beamten verkauft in Ägypten. Als Gesellschafterin der schönen Nofret, der jungen Gemahlin des Seti, lebt sie in einer fremden Welt fernab vom Toben des Krieges in Troja.
Auszug aus dem Text:
XIX.
Und dann kam eines Tages Odysseus. Auch er war ein Freier wie viele, und doch unterschied er sich von allen. Er rivalisierte nicht, sondern schloss sogleich Freundschaften. Er war ein wunderbarer Erzähler und füllte die Abende mit Streichen und Abenteuern. Dabei war er geschmeidig und einfallsreich, kein plumper Keulenschwinger wie Theseus. Sein Heldentum war ein Heldentum des Geistes, der Fantasie. Meine Brüder hätten ihn geliebt. So jedoch eroberte er die Herzen anderer junger Männer: Allen voran jenes von Menelaos, dessen Knabengesicht wie ein schmaler Mond zwischen den anderen leuchtete; aber selbst der rüde Agamemnon hing an seinen Lippen. Auch mein Vater war von diesem weltgewandten und geselligen Mann eingenommen, und nur zu gern hätte er mich ihm vermählt. Am Ende einer langen Nacht nahm er ihn beiseite und besprach sich mit ihm. Er erklärte ihm seine schwierige Lage und seine Furcht, die abgewiesenen Freier zu verärgern. Odysseus versprach, über eine Lösung nachzudenken, und bereits am nächsten Abend unterbreitete er in der Runde einen Vorschlag.
„Freunde, wir können sie nicht alle heiraten, und bis wir uns so lange bekämpft haben, bis nur noch einer von uns übrig ist, sind wir alte Männer.“
Die Lacher waren auf seiner Seite, und nach wenigen Wortwechseln wurde auch sein Vorschlag für gut befunden: Die Freier leisteten einen Eid, jenen Mann, dem ich zufallen würde, zu unterstützen, falls ich erneut geraubt würde.
Ich lachte, als ich von diesem Eid hörte.
„Bin ich denn das goldene Vlies oder ein Apfel aus dem Garten der Hesperiden?“
„Du wurdest schon einmal entführt“, antwortete mein Vater.
„Du weißt genau, dass das nicht stimmt“, fiel ich ihm verärgert ins Wort.
„Wer sagt das?“, fuhr er mich an und wiederholte es ein zweites Mal, schärfer: „Wer sagt das? Keiner sagt das. Was nicht gesagt wird, stimmt nicht. Aber jeder, jeder redet von deiner Entführung. Also stimmt es.“
Dann wandte er sich ab, sah mit glasigem Blick auf den großen Wandteppich, den Klytaimnestra gewebt hatte: das goldene Zeitalter. Ich liebte ihn, da er mich an Arkadien erinnerte. Als meine Schwester ihn in einem ihrer Wutanfälle hatte verbrennen wollen, hatte ich ihn vor den Flammen gerettet. Nur am oberen Rand sah man noch die Spuren, einen verkohlten Streifen, der sich wie ein düsterer Schatten über die Hirten, Schafe und Bächlein legte. Vater jedoch schien den Teppich gar nicht zu sehen, zu versonnen war sein Blick.
„Ithaka“, sagte er plötzlich, „soll eine wunderbare Insel sein. Ich könnte mir vorstellen, dass du dort glücklich wirst.“
Ich erwiderte nichts. Es gab keinen Aufschub mehr.
XX.
Es war schwierig, Odysseus allein anzutreffen. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen und seinen Witz sprühen zu lassen. Ich beobachtete ihn. Gefiel er mir? Nicht besser oder schlechter als ein anderer. Aber er faszinierte mich. Ich ließ ihn von meinen Gefährtinnen mit einem Vorwand herbeirufen. Er kam schweißnass aus dem heißen Tag in den kühlen Saal des Palastes. Ins Spätlicht trat er wie eine lodernde Flamme, wie eine kleine Sonne erhellte er den Raum. Ich erschrak vor seiner Hitze, vor der Glut seiner Augen. Ich begriff: Wenn ich mit diesem Mann ginge, würde ich verbrennen.
„Nun, Prinzessin?“
Sein Lächeln hatte mich bereits durchschaut. Ich schlug die Augen nieder.
„Bist du ein mächtiger König?“, fragte ich scheinbar leichthin.
„Jeder von uns ist ein König“, antwortete er. „Es kommt nur auf das Königreich an. Und mächtig – ja, ich bin mächtig. Mächtig wie eine Lüge, die alle glauben. Aber weder das eine noch das andere hat Bedeutung für mich. Ich bin ein Suchender.“
„Und was suchst du?“
Er trat noch näher an mich heran.
„Heimat.“
„Ist denn nicht Ithaka deine Heimat?“
„Ja, das haben sie uns beigebracht, nicht wahr? Dass ein Ort unsere Heimat ist. Für mich aber gilt es nicht. Gilt es für dich, Prinzessin?“
„Aber was ist Heimat dann?“
„Genau danach suche ich“, antwortete er leise. „Danach suche ich. Bis zum Ende der Welt.“
Mir schlug das Herz bis zum Hals.
„Würdest du mich dorthin mitnehmen?“
Er schaute auf: mit einem Blick, den ich noch von keinem Mann gesehen hatte. Es war ein Blick, der nicht am Glanz meiner Augen haltmachte, ein Blick, der mich bis ins Mark durchfuhr. Da war keine Bewunderung, da war keine Erwartung. Es war, als sähe er mitten hinein in meine Seele, als sähe er, er als erster, als einziger Mann bisher, Helena, nichts sonst, nur Helena, irgendein Mädchen aus Sparta.
Und dann sagte er mit einer Stimme, die von weit her kam: „Du bist eine schöne Frau, heißt es. Der Ruf deiner Schönheit klebt an dir wie Honig. Da bleibt das Ungeziefer nicht aus.“
„Also würdest du mich nicht mitnehmen.“
„Nein, Prinzessin.“
Ohne dass ich es merkte, hatte ich zu weinen begonnen.
XXI.
„Wähle den Schwächsten“, hatte Odysseus mir geraten. „Der Stärkste würde dich heimtragen wie eine Trophäe, und in Machtkämpfen und Intrigen würdest du zum Spielball. Wähle den Schwächsten und bleibe in Sparta. Werde Mutter. Empfange keine Gäste, feiere keine Feste. Lebe in der Stille. Lass Vergessen auf deinen Glanz sinken. Dann kannst du glücklich werden.“
Und ich ging zu meinem Vater und sagte ihm: „Ich wähle den Knaben. Menelaos.“
Bis dahin hatten wir kaum ein Wort gewechselt. Er war scheu und ließ seinen Bruder reden, der das Maul aufriss und von der Größe Mykenes sprach, die er wiederherstellen würde, glanzvoller und mächtiger denn je. Wie zwei Kinder saßen wir da, mein erwählter Bräutigam und ich, und nicht einmal unsere Hände fanden zueinander. Vater war zuerst wenig begeistert gewesen. Zuletzt hatte ihn die Möglichkeit überzeugt, gleichzeitig meine Schwester Klytaimnestra mit Agamemnon zu vermählen, der ihm wegen seines skrupellosen Ehrgeizes gefiel. Klytaimnestra wehrte sich nicht, und Agamemnon nahm sie mit kalter Miene entgegen wie einen Trostpreis. Bald nach der Hochzeit reisten sie ab, und meine Schwester verabschiedete sich nicht von mir.
Ich blieb in Sparta. Es war leer geworden, die Freier waren abgereist. Meine Eltern hatten sich in einen anderen Teil des Palastes zurückgezogen. Wie still es nun war. Die Tage wurden eintöniger, durchsichtiger, leichter. Mein junger Gemahl rührte mich in seinen ungelenken Gesten. Nachts trat er an mein Bett und strich atemlos über mein Haar.
„Ich liebe dich“, sagte er zu meinem Haar, und ich richtete mich auf und küsste ihn auf seinen warmen, weichen Mund.
„Ich liebe dich auch“, sagte ich, und ich fühlte, dass Odysseus recht gehabt hatte: Jetzt würde ich glücklich werden.