Im Kokon
Im Kokon
Im Kokon
„Im Kokon“ erzählt die Geschichte eines etwa 13-Jährigen Mädchens, das sich in die geheimnisvolle Nelly verliebt. Ihre Abenteuer sind teils märchenhaft, teils absurd, immer aber mit einem Augenzwinkern versehen. Eine Besonderheit der Ich-Erzählerin ist, dass sie sich zu allem drei Versionen zulegt, die sie sich aus den verschiedenen Gerüchteküchen selbst zusammenreimt. Das macht ihre Welt - und die des Lesers wohl auch - bunter und spannender.
Ich traf mich mit Elsie Kubrick. Sie trug die Haare kurz und lief selbst im Regen barfuß, und dazu umschlabberten sie weite Sommerkleidchen, in die sie beim Klettern Löcher riss. Sie war mit mir in der Klasse, aber doch nicht mit mir befreundet. Ich vermied es überhaupt, mich mit irgendwem zu befreunden, sehr zum Bedauern meines Vaters, der es gern gesehen hätte, wenn ich öfter „bei der Kubrick“ gewesen wäre. Er sagte es nicht offen, streute aber gelegentlich ein, dass man doch nie wisse, mit wem die Leute verwandt seien. Und dann sortierte er seine Filmesammlung. Erst, als sich herausstellte, dass Elsie ihren Namen der fatalen Rechtschreibschwäche ihres Ur-Ur-Ur-Großvaters zu verdanken hatte, der Valentin Kuhbrück geheißen hatte, verflog sein Interesse. Offenbar machte Vater sich nichts aus Kühen.
Elsie also saß mit mir in einem Kirschbaum in Karla Neuwirths Garten, die gerade mit ihrer Familie in Eberndorf Schweine streichelte, und weil ich längere Arme als sie hatte, reichte ich ihr die schwärzesten Früchte von den Zweigen über mir. Elsie aß immerfort und erzählte, was sie gehört hatte. Elsie hörte immer eine ganze Menge, und über Nelly wusste sie schlichtweg alles. Zuallererst natürlich erklärte sie mit gesenkter Stimme, dass mit Nelly nicht alles richtig sei. Ein bisschen eine Irre, so formulierte sie es, ein Stadtmensch eben. Dabei wohnten wir selbst in einer Stadt, aber das konnte man nicht vergleichen, weil es hier noch kleine Gärten gab und Kirchtürme, niedrige Häuser und gleich daneben das Land mit den Feldern und Bauernhöfen und Fichtenwäldchen. Für einen echten Stadtmenschen war unsere Stadt wie ein einziger Vorort, der schon vorbei war, wo andere Städte erst anfingen. Nelly war so ein Stadtmensch, eine, die zwischen Betonbauten aufgewachsen war mit einer verschrobenen Vorstellung von der Natur, eine Schwärmerin, wie niemand von uns es je hätte sein können. Sie hatte eine Weile studiert, Kunst wahrscheinlich, Elsie wollte es nicht beschwören, möglicherweise auch Ethnologie oder Charismatik, aber dann hatte sie abgebrochen, weil ihr alles zu eng war und sie nicht mehr zurecht kam, eine Aussteigerin eben, und da hatte sie von diesem Haus gehört oder es mal zufällig entdeckt oder jedenfalls war sie dann mit den Neuwirth übereingekommen, dass sie hier wohnen dürfe, und ihre Eltern schickten ihr immer die Miete. Ich nickte vor mich hin. So was hatte ich mir auch schon gedacht, und ich steckte noch ein paar Kirschen ein und sprang vom Baum. Ich verknackste mir einen Fuß dabei, und etwas humpelnd suchte ich nach Mary Weiss.
Mary war zwei Jahre älter als ich und ein etwas fettleibiger Junge, der eigentlich Martin hieß. Er trieb sich viel auf den Plätzen herum und aß im Sommer Unmengen an Eiscreme. Wir mochten Mary, weil er sich nicht aufspielte, sondern sanft war und ein bisschen langsam. Trotzdem entging ihm nie was, und seine trägen Augen begannen zu blitzen, wenn er seine Neuigkeiten verbreitete. Er hatte wohl eine blühende Phantasie, und jedenfalls wusste auch er immer alles über alle. Seine Version von Nelly begann ähnlich wie die von Elsie Kubrick. „Die ist eine Komische.“ Und natürlich beflügelte ihn das. Denn eigentlich war Nelly ein ganz normales, nettes Mädchen gewesen. Hatte brav gelernt. Krankenschwester wollte sie werden. Ihre Eltern, Stadtmenschen, waren arm. Nelly lernte und träumte von den Ebola-Kindern in Afrika. Mit siebzehn entschied sie sich, Nonne zu werden. Und dann war sie ein paar Jahre im Kloster. Vorbereitung auf die Mission. Aber die Schwestern behandelten sie schlecht. Weil sie eine Romantikerin war, untauglich für die harte Realität (Mary hob die Augenbrauen, als er davon erzählte – die „harte Realität“ spielte in seinen Versionen immer eine besonders wichtige Rolle). Sie musste Böden schrubben und Unkraut jäten, dabei wollte sie doch kranken Kindern die Windeln wechseln und den sterbenden die Hand halten. Sie zerbrach und kehrte nach Hause zurück. War nicht mehr dieselbe. Die Eltern konnten nichts für sie tun. Aber da gab es noch einen Onkel oder einen Paten oder einen entfernten Verwandten jedenfalls, dem dieses Haus gehörte. Und der brachte Nelly dorthin. Damit sie sich wieder finden konnte. Aber es war schon zu spät. Und so lebte sie jetzt da, in dieser Bruchbude, und war selbst eine Bruchbude, eine seelische. „Ein nervliches Wrack“, sagte Mary. Dann fragte er mich, ob ich mal von der Eiscreme lecken wolle. Ich war noch von den Kirschen satt und dankte. Warum mich die Geschichte überhaupt interessiere, wollte er noch wissen. Ich zuckte mit den Schultern. „Nur so. Ist sonst nichts los dieser Tage.“
Erzählung, Edition Raetia 2007